Zum Inhalt springen

Wie Text zum Projekt werden kann

Textprojekte spielen in unserer Zeit eine verschwindend kleine Rolle. In unserer Welt der Bildchen und Klänge sind sie offenbar wenig attraktiv und nicht medienträchtig genug. Dies gilt insbesondere für den europäischen Raum. Das zwischen Blogosphäre und Realität vermittelnde Buch der Blogger, das ein solches Experiment hätte sein können, war leider an der Unehrlichkeit einer Teilnehmerin gescheitert. Um so erfreuter war ich, in den letzten Wochen, dank des hervorragenden Blogs von Nifty „Notebook Stories“ , drei beeindruckende Aktionen zu entdecken, die Text und Schreiben zum Hauptwerkzeug haben.

David verlässt das Haus nie ohne sein Notizbuch. Begegnet er Menschen, die ihm interessant scheinen, geht er mit der Aufforderung auf sie zu: „Write in my journal„, die auch Titel seines Blogs ist. Einige schreiben nur eine Zeile, andere mehrere Seiten. Und so sammelt David Handschriften und Geschichten, Schnappschüsse eines Lebens oder eines Augenblicks. Er veröffentlicht sie zusammen mit einer kurzen Vorstellung und einem Foto der entsprechenden Person in der Umgebung, in der sich ihre Wege gekreuzt haben. Es entsteht ein Kaleidoskop aus Persönlichkeiten, Schicksalen und Momenten, das Flüchtiges für immer festhält und archiviert. Ich hoffe, dass David sein Projekt noch lange führen wird. Menschen wie er sind es, die den kulturellen Wert unserer Zeit aufrechterhalten, indem sie es verstehen, die neuen Medien im Dienste von Kunst und Geschichte zu nutzen.
Ich habe darüber nachgedacht, wie hier bei uns ein solches Projekt zu realisieren wäre. In meinem Hinterkopf hörte ich die Begriffe „Privatsphäre“, „Datenschutz“ und noch einige mehr. Nun ja.

Eine interessante Denk- und Schreibübung stellt auch das Blog-Projekt „One sentence“ dar. Die Artikel bestehen im eigentlichen Sinn aus Kommentaren, bei denen es darum geht, das Leben in einem einzigen Satz zusammenzufassen.

Ein Kunstprojekt der besonderen Art hat Nicole Kenney gestartet. Unter dem harmlos erscheinenden Titel „Before I die I want to“ sammelt sie Zeugnisse menschlicher Wünsche, Träume und Hoffnungen. Unter einem Polaroid-Foto schreiben Menschen das, was sie vor ihrem Tod unbedingt tun oder erleben wollen. Das Projekt wird in verschiedenen Städten in den USA, in Indien und auch in der besonderen Situation des Hospiz‚ durchgeführt. Handschrift und Gesicht münden in anrührenden Sätzen auf dem weißen Streifen unter dem Bild.
Diese Aktion hat mich an ein Projekt einer New Yorker Künstlerin, deren Name mir leider entfallen ist, erinnert, das vor einigen Jahren großen Anklang in den Medien und so sogar Einzug in eine Folge der Krimi-Serie „CSI: New York“ gefunden hatte: Sie hatte in der ganzen Stadt New York in mühsamer Klein- und Laufarbeit in Cafés, Kiosken, Restaurants, Lebensmittelgeschäften und Waschsalons mehrere Hunderttausend Postkarten in Ständern aufgestellt. Die Vorderseite der Postkarte war leer, auf der Rückseite stand als Empfängeranschrift die Adresse der Künstlerin. Auf der Vorderseite sollten Menschen anonym, durch Text, Zeichnung, Foto oder andere Medien etwas berichten, worüber sie sich schämen oder womit sie anderen Unrecht getan hatten. Binnen weniger Wochen waren die Postkarten alle aufgebraucht und mussten nachgedruckt werden, obwohl die Künstlerin das Porto nicht übernahm und jeder das Kärtchen selbst frankieren musste. Ein halbes Jahr später konnte sie eine halbe Million Karten an Pinnwänden befestigen und fotografieren. Die Fotos der Pinnwände wurden zusammen mit den beeindruckenden Zeugnissen in einem Bildband veröffentlicht. Auch hier mag ich nicht darüber nachdenken, wie ein solches Projekt in Deutschland verlaufen würde.

Mir machen diese Projekte jedenfalls Hoffnung: Auch wenn wir hier wenig davon mitbekommen, ist der Text nicht überall tot und er ist weiterhin Teil der Kunst. Ein tröstender Gedanke.

NACHTRAG !! Gerade entdeckt: Postmuse

NACHTRAG 2, 25 August 2012: Gerade entdeckt: The-travelling-notebooks-project