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Warum die Jahreszeiten für Künstler so wichtig sind

Wer regelmäßig im Blog vorbeischaut, merkt bald, dass Einträge nicht selten das Wetter und die Jahreszeiten zum Thema haben. Leicht könnte der Eindruck entstehen, meteorologische Beschreibungen seien mein eigentliches Betätigungsfeld.

Dass solche Dinge in der Tat eine große Rolle spielen, hat mit den eigenen Gesetzen des Schreibprozesses zu tun.

Zum einen liegt es in der Natur der Sache, dass – von Recherchen abgesehen – der Vorgang des Schreibens sich mehrheitlich in den eigenen vier Wänden abspielt. Wer ernsthaft schreibt, verlässt das Haus manchmal über Wochen oder Monate nicht oder nur sehr wenig, d.h. nur sehr sporadisch und nur sehr kurz. Unabhängig davon, dass Termine manchmal einzuhalten sind und intensives Arbeiten also nicht zu vermeiden ist, ist diese Abgeschiedenheit für den Schreibenden der einzige Weg, den Text im Fluss zu halten, inhaltliche und stilistische Konsistenz zu erreichen, ein homogenes Werk zu erschaffen und eine von der ersten bis zur letzten Seite gleichbleibende Denk- und Schreibqualität zu erhalten. Während es bei wissenschaftlichen Texten oder Sachbüchern durchaus sinnvoll und vorteilhaft ist, einem festen Stundenplan oder einem bestimmten täglichen Seitenpensum zu folgen und danach die Arbeit bis zum nächsten Tag ruhen zu lassen, ist dies etwa bei Romanen weder wirklich möglich noch wünschenswert. Der Text lässt sich hier nicht bändigen, er muss ausbrechen und kann nicht einfach zurückgehalten werden, er kennt keine Uhrzeiten, keinen Tag, keine Nacht. Wie ein reißender Fluss bahnt er sich seinen Weg, notfalls mit Gewalt, und dem Schreibenden bleibt nichts anderes übrig, als bis zur Atemlosigkeit zu schreiben. Er lebt für diese Zeit in einem Tunnel aus Worten, einem soliden Bau aus Gedanken, in den die Außenwelt nicht einzudringen vermag. Das, was draußen geschieht, reduziert sich in solchen Zeiten auf die überschaubaren Eindrücke, die sich durchs Fenster schleichen oder – je nach Wohnsituation – in der Möglichkeit offenbaren, auf dem Balkon, der Terrasse oder im Garten zu schreiben. Diese wenigen Schnappschüsse, die sich in solchen Phasen höchster, ja vernichtender Konzentration aus Licht, Farben und Temperaturen ergeben, wenn die Augen für einen Augenblick das Papier oder den Bildschirm verlassen, ohne den Gedanken aufzugeben, oder die Umgebung unbewusst wortsuchend ertasten, sind dann der einzige Kontakt zur Außenwelt, das einzige Entkommen in die Realität, die einzige Flucht aus dem zwanghaften Fieber des Schreibens. Um so wichtiger sind diese winzigen Momente der Linderung und der Normalität. Sie sind Arznei, Entschädigung und Belohnung zugleich.

Ein weiterer Grund ist der Beruf des Schreibens an sich. Schreibende, Maler, Fotografen, Innenarchitekten gehen im Grunde derselben Tätigkeit nach: Sie erfassen Bilder, Farben, erspüren Ungesagtes, Unterschwelliges, Stimmungen und geben sie mithilfe ihres jeweiligen Mediums wieder oder erschaffen sie da, wo sie nicht vorhanden sind. Dieses Erspüren, Erfassen, die Beobachtung natürlicher Dinge und menschlichenVerhaltens sind also viel wichtiger als der fälschlicher Weise als „kreativ“ bezeichnete Prozess.
Schon aus diesem Grund bringen Schreibende eine Art natürliche Wetterfühligkeit mit, eine Überempfindlichkeit für kleinste Veränderungen des Himmels, des Lichts, der Luft, der verschiedensten atmosphärischen Phänomene. Sie sind nicht nur Lebensersatz in Zeiten intensiven Schaffens, sie sind auch Symptom und Material, Nahrung und Grundlage. In dem jeden Tag gleichen Umfeld des „Homeoffice“, wie es Neudeutsch heißt, ist der Wechsel der Jahreszeiten zudem eine gesundheitlich notwendige, ja überlebenswichtige Größe. Er schenkt den Rhythmus, der das Leben „nur zu Hause“ strukturiert, Prekarität zu überbrücken hilft und lehrt, Genuss nicht zu vergessen.
Aus dieser Symbiose entsteht nicht zuletzt aber eine labile Abhängigkeit. Fällt eine Jahreszeit aus, ist der Sommer herbstlich kühl und verregnet oder der Winter unnatürlich mild, wankt die feste Funktion des Wetters. Das Gefühl von an das Schreiben verlorenen Lebenszeiten kommt zutage und stellt Existenzentscheidungen in Frage.

Das seltsam tiefe, innige und fragile Verhältnis des Künstlers zum Wetter und die krankhaft-zwanghafte Aufmerksamkeit, die er ihm schenkt, sind mehr als eine typische „Künstlerschrulle“. Sie sind Ausdruck all dessen, was das Schreiben ausmacht – in seiner Verbundenheit und Liebe zum Leben und zur Natur, in seiner nicht ungefährlichen Verwundbarkeit.