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Der Briefkasten

In früheren Jahren habe ich meinen Briefkasten geliebt. Er war immer liebevoll, treu und zuverlässig: Jeden Tag aufs Neue – außer an den nicht zuletzt deshalb verhassten Sonntagen – war er voll, jeden Tag aufs Neue brachte er Freude in mein Leben. Er barg jede Menge Briefe aus allen möglichen Ländern, bunte Postkarten und gefütterte Umschläge mit allerlei Überraschungen. Er war mein Reisebüro, meine Wärmespendemaschine und mein Sozialleben. Ebenso liebte ich den Briefkasten, der vor dem winzigen, nur wenige Schritte von meiner damaligen Wohnung entfernt gelegenen Postamt stand: Er verband mich mit allen Menschen, die mir etwas bedeuteten, er war der Ausgangspunkt, von dem aus meine Gedanken zu ihnen in aller Welt gefahren, geflogen oder verschifft wurden.
Dinge ändern sich. Das kleine Postamt gibt es nicht mehr, Freundschaften zollten Berufswahl und zu unterschiedlichen Lebenswegen Tribut und entschliefen. Nach und nach verschwand alles Private aus meinem Briefkasten, behördliche Mitteilungen und paar harmlose Rechnungen teilen sich ab und zu den leer gebliebenen Raum. Für mich gehört dies zu den traurigsten Erfahrungen, die das Leben und das Alter mit sich bringen.
Hier zeigt sich auch, wie sehr sich die – mittlerweile nicht mehr ganz – neuen Medien von den alten unterscheiden. Ich habe es andernorts bereits erläutert: eMails haben in keinerlei Hinsicht Briefcharakter. Sie wurden als rasches Kommunikations- und Informationswerkzeug konzipiert und erfüllen lediglich diese Aufgabe.
Selbst im privaten Bereich bleiben sie notwendigerweise oberflächlich und kurzlebig – wer druckt schon jeden Zweizeiler aus, um ihn zu archivieren? eMails sind immer aktuell und kommen gerade deshalb über die eigene Aktualität nicht hinaus, bleiben für die Welt- und Literaturgeschichte wie für die persönliche auch in höchstem Maße ahistorisch.
Auch emotional sind sie nicht in der Lage, als Surrogat zu fungieren. Das Gefühl, das eine vertraute Handschrift, die sorgfältig ausgewählte Briefmarke, die Dicke des Umschlags beim Öffnen des Briefkastentürchens vermitteln, hat eine andere Qualität als das bloße Entdecken einer bekannten Absenderadresse in der Liste des elektronischen Postfachs. Briefe sind nie selbstverständlich: Sie verlangen gleichermaßen von Autor und Adressat ein gewisses Maß an Zeit, an „Mühe“, an Bereitschaft, das eigene Leben für ein paar Augenblicke zu vergessen und zurückzustellen und sich auf den Anderen ganz und gar einzulassen. eMails bleiben nur ein Transportmittel für Fakten und bedeuten nur in sehr seltenen Ausnahmefällen ein wahren, echten, tiefen und intimen Austausch. Vergleiche ich frühere Briefe von Freunden mit ihren heutigen eMails – so sie überhaupt noch schreiben -, erkenne ich die Person hinter den Worten kaum wieder, und das hat nichts mit der eigenen Entwicklung zu tun. Sie haben kaum noch Inhalt und aus Gesprächen ist Belangloses geworden.
Es haben nicht wenige schon vor mir beschrieben und mitunter wissenschaftlich untersucht, wie sehr die Tatsache, dass mit der Hand oder mit einer Tastatur geschrieben wird, insbesondere im rein privaten und freundschaftlichen Bereich die Korrespondenz auch inhaltlich verändern kann. Neurologen, Soziologen, Anthropologen und Psychologen haben sich hinreichend damit beschäftigt. Doch ihre Erkenntnisse sind kein Trost.
So bleibe ich zurück – mit der Sehnsucht nach meinem geliebten Briefkasten.

NACHTRAG: Zufällig gerade entdeckt: https://www.ted.com/talks/lakshmi_pratury_on_letter_writing.html