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Meilensteine

Der Fall der Berliner Mauer oder die Anschläge des 11. September sind Meilensteine der Geschichte, die trotz der seither verstrichenen Zeit noch nicht ganz den Sprung in die rein theoretische Welt historischer Begebenheiten geschafft haben: Wer alt genug ist, kann sich in der Regel daran erinnern und weiß noch zu sagen, wo er oder sie war und was er oder sie dachte. Diese Tage sind vergangen, aber lebendig und präsent.
Neben solchen übergreifenden Ereignissen kennt jede persönliche Lebensgeschichte ihre eigenen Meilensteine – freudige und traurige, private und berufliche, große und kleine.

Jedes Jahr um die Weihnachtszeit wird mir deutlicher als sonst bewusst, wie sehr eine fast nebensächliche Kleinigkeit mein Leben verändert hat – die Rechtschreibreform.
Sie ist nun schon länger in Kraft, aber die Einschnitte, die sie für mich bedeutet hat, sind tiefgreifend, vielfältig und erstaunlich gegenwärtig.

Die beruflichen Aspekte waren dabei fast unerheblich.
Ich biete meinen Auftraggebern an, die Rechtschreibung zu wählen, die ihrem Selbstverständnis oder ihrem Geschmack entspricht. Wenn ich um Rat gebeten werde, empfehle ich die gemäßigte Rechtschreibung, die die größte Akzeptanz findet. Diese Mechanismen waren schnell erlernt.

Viel gravierender und präsenter sind die Auswirkungen der Rechtschreibreform heute auf mein privates Verhalten.
Zunächst lebe ich seitdem in einer Art Trichotomie. Handschriftliche Texte – also auch private Korrespondenz – schreibe ich in Alter Rechtschreibung. Sie ist logischer, sinnlicher, ästhetischer, sprachfreundlicher und einfach „richtiger”, wie das im Internet reichlich kommentierte Beispiel von Erich Kästners heißersehnten Kartoffeln zweifelsfrei zeigt. Berufliche Korrespondenz und eMails tippe ich, wie alle Texte, die ich am Computer entwerfe, in gemäßigter Rechtschreibung. Meine Blogs wiederum schreibe ich zwar im Prinzip in gemäßigter Rechtschreibung, jedoch unter Umgehung der Regeln und Vorgaben, die ich als zu sprachverunstaltend betrachte.
Neben solchen erworbenen Eigenheiten hat die Rechtschreibreform mein Kaufverhalten stark verändert: Bücher, die vor 1996 verfasst wurden, kaufe ich nur noch im Antiquariat in entsprechenden älteren Ausgaben – ich weigere mich, die schöne Sprache Stefan Zweigs etwa durch dieses unsägliche politische Trauerspiel verstümmelt zu lesen. Ebenso verschenke ich heute keine Klassiker der deutschen Literatur mehr. Überhaupt kaufe ich auch für mich weniger Bücher und flüchte stattdessen lieber zu den guten alten Freunden in meiner Bibliothek.

Die Rechtschreibreform war nicht mehr als eine hässliche Fußnote der Bildungspolitikgeschichte und hat die große Bedeutung sicher nicht verdient, die ihr zuteil wurde. Für mich wurde sie zu einem Meilenstein – einem kleinen, aber deprimierenden.