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Wörter und Bilder

Zu den bekanntesten Seiten der Weltliteratur gehört zweifelsohne Romain Rollands Beschreibung seines kindlichen Verhältnisses zu Wörtern und den Bildern und Empfindungen, die er mit ihnen verband. Beeindruckend ist diese Erzählung nicht nur wegen der Prägnanz, mit der die Entstehung von Assoziationen in der frühen Vorstellungswelt eines sehr jungen Menschen geschildert wird, und die jede linguistische Abhandlung zu diesem Thema in wenigen Zeilen überflüssig macht. Verblüffend ist sie, weil jeder, der sich im Erwachsenenleben beruflich dem Schreiben widmet, diese Momente auf sehr ähnliche oder gar identische Weise erlebt hat und sich lächelnd in die eigene Vergangenheit zurückversetzt fühlt.

Wenn auch mit dem natürlichen und akademischen Reifeprozess manche Aspekte dieser innigen Beziehung zum Wort sich verändern mögen, so bleibt diese Art von Freundschaft zu dem, was nun weniger Wunder denn Werkzeug wurde, bis zu einem gewissen Grad erhalten. Bestimmte Wörter werden zu Begleitern, zu einem vertrauten Zuhause, zu einem Sinnbild unserer selbst, zu einer Projizierung einer Welt, wie wir uns wünschen, dass sie sein könnte.

Ein solches Wort, das ich nicht missen möchte, weil ihm für mich eine unvergleichliche Schönheit innewohnt, ist das Wort „Aufzeichnungen”.

Was mir an ihm so gefällt, ist zunächst, dass es so reizend altmodisch ist. Natürlich kann man auch in Bezug auf elektronische Daten, Ton- oder Filmaufnahmen von Aufzeichnungen sprechen. Was ich aber in diesem Wort sehe, wenn ich es höre, lese oder schreibe, ist etwas ganz anderes.

Ich sehe die Tagebücher von Abenteurern, Naturforschern, Anthropologen, Ethnologen und Archäologen, die akribisch, aber auch voller Respekt, Neugier und Bewunderung die Welt nachzuzeichnen versuchten, die sie mit Staunen entdeckten.
Ich sehe die sorgfältig geführten Chroniken von Zeitzeugen, die im Kerzenschein längst vergangener Jahrhunderte ihre Feder in schmutzige Tintenfässchen tauchten, um das für sich und andere festzuhalten, was ihre Gegenwart unserer Geschichte schenkte, um Erlebtes zu begreifen und zu vermitteln.
Ich sehe all jene, die ihren vermeintlich unbedeutenden Alltag niederschrieben und unbewusst und ungewollt zu historischen Quellen wurden.
Ich sehe die Reisenden, die uns Unbekanntes nahebrachten und unsere Träume beflügelten.
Ich sehe Abermillionen von Seiten, wunderschöne ruhige Handschriften, hektische Skizzen, detailreiche Zeichnungen, ein Kompendium unseres Wissens und unserer Geschichte.

Selbst wenn die aktuelle Form der Aufzeichnung, das Blog, sich weder Papier noch Tinte als Medium ausgesucht hat, mag ich es für das, was es darstellt: Es setzt das Bedürfnis des Menschen fort, zu bewahren.

Meine Vorstellung hat ein für alle Mal beschlossen, in der Aufzeichnung das idyllisch-kitschige Bild eines handschriftlich geführten Notizbuchs zu sehen. Dieses Wort ist für mich deshalb so wunderschön, weil es eine dokumentarische, differenzierte, gleichermaßen analytische und synthetische Ruhe ausstrahlt. Es verkörpert den Rückzug, die wohlwollende Distanz, das Innehalten, die objektive und zurückhaltende Demut, die ich als die eigentliche Aufgabe des Schreibens betrachte. Aufzeichnungen sind die Übertragung einer Momentaufnahme auf Papier. Sie sind das, was Schreiben sein sollte.