Bevor Missverständnisse entstehen: Ich bin kein irgendgearteter Japan-Fan – ich eigne mich als „Fan“ (ganz gleich wovon oder von wem) zugegebenermaßen grundsätzlich ohnehin recht wenig –. Die japanischen Landschaften, so ich sie kenne, empfinde ich in vielen Fällen als eher trist und bedrückend; ich weiß genug von der japanischen Esskultur, um eingestehen zu müssen, dass ich in diesem Land vermutlich verhungern müsste; ich halte nichts von Spiritualität, die im japanischen Alltag als Glaube und Aberglaube eine große Rolle spielt; und der so krampfhafte wie naive Versuch des Westens und insbesondere seiner weiblichen Bewohner, asiatische Medizinen, Ernährungs- und Sportarten unreflektiert und gerade unter dem Vorwand der Reflexion zur allgemeingültigen Weisheit und Wahrheit, zur Rettung des Abendlandes und der eigenen Lebensführung erheben zu wollen, löst in mir Fluchtreflexe und Distanzierungsinstinkte aus.
Sehr wohl allerdings sprechen mich einige Aspekte der japanischen Alltagsästhetik und vor allen Dingen die japanische Einstellung zu Kunst, Handwerk, Kunsthandwerk und Design durchaus an, denn viele von ihnen sind ein Spiegel meiner eigenen Sicht meiner Aufgabe: Die unaufgeregte, ja natürliche Balance zwischen persönlicher Demut und höchstem Qualitätsanspruch, zwischen dem unerlässlichen Streben nach Perfektion im eigenen Tun und der bedingungslosen Liebe zur Schönheit des Unscheinbaren in Natur und Gegenständen, zwischen einer bescheidenen Handwerksanschauung und einer komplex ausformulierten Werkphilosophie, zwischen einem schlichten und ruhigen, von Forschung und Suche geprägten Leben und der starken Treue zu Idealen und analogen Traditionen, zwischen respektvollem Bewahren und freudigem Experimentieren entspricht ganz und gar dem, was ich als Sinn der künstlerischen Arbeit betrachte, und dem, was ich hier in Deutschland vermisse. Diese Werte, die in Japan insbesondere in der hohen Anerkennung und in der gelebten Praxis des Kunsthandwerks ihren Ausdruck finden, sind seit jeher auch meine, auch wenn ich sie nicht zum Vorbild nahm und mir meine Nähe zu ihnen erst sehr spät, in letzter Zeit nämlich, und eher zufällig bewusst wurde.
Die japanische Sprache ihrerseits ist für Menschen, die Text lieben, auch dann ein reizvolles Forschungsgebiet, wenn man sie nicht fließend beherrscht. Sie ist vielschichtig und einfach zugleich. Eine einzelne Silbe, ein Wort können die Bedeutung eines vollständigen Satzes haben und enthüllen eine zutiefst charmante, zuweilen amüsante und immer entwaffnend poetische Betrachtungsweise der einfachsten Dinge.
„Wabi Sabi“ ist einer dieser gedichtartigen Ausdrücke, die eine ganze Welt mit und in all ihren Facetten zusammenfassen. Bis vor kurzem wusste ich nicht einmal um die Existenz dieses Begriffs, noch weniger wusste ich, dass der Westen ihn mittlerweile als Lifestyle- und Einrichtungstrend entdeckt hat und halb (und deshalb falsch) rezipiert bedauerlicherweise zum Hype des Unperfekten und zur Ausrede der Nachlässigkeit missbraucht.
Tatsächlich ist „Wabi Sabi“ ein verflochtenes und mosaikartiges ästhetisches Konzept, das programmatisch dazu mahnt, das vermeintlich Unscheinbare oder Beschädigte zu (betr)achten, dessen Schönheit zu ergründen und zu ehren, und jenseits der alles überstrahlenden Kraft des Perfekten und Neuen gerade die kleinen, alten und gebrauchten Gegenstände in ihrer faszinierenden Fragilität, ihrer bezaubernden Schlichtheit, Flüchtigkeit, Wesentlichkeit, Vergänglichkeit, Gebrochenheit, Zerrissenheit und Reife zu sehen, zu lieben und zu zeigen, ihren Geschichten zuzuhören, festzuhalten und zu erzählen, ja zum Gegenstand der Kunst und aller Ästhetik zu machen.
Perfektion wird wiederum in der Betrachtung und Detailgenauigkeit erwartet, sowie in der Vielfalt und Tiefe des lang tradierten handwerklichen Könnens, das zur zu bewahrenden Kostbarkeit erklärt wird.
Es war für mich eine Überraschung – wie ich zugeben muss –, zu entdecken, dass ich mit meinem Ansatz des Sehens und des Festhaltens der kleinen Dinge und der Zerbrechlichkeit des Augenblicks also nicht alleine dastehe.
Der Begriff „Wabi Sabi“ erscheint nicht auf meiner Website und ist nicht Teil meines Statements, denn es ist nicht so, dass ich mich diesem Prinzip anschließe oder angeschlossen hätte: Vielmehr ist diese Einstellung für mich natürlich, mit meiner Denkart eng verwandt. Es war schon immer meine Art zu sehen und zu schreiben, und sie ist der wichtigste Antrieb meiner Arbeitsweise und meines privaten Alltags. Im Profil meines Twitter-Accounts wiederum habe ich vor wenigen Tagen die Zeile „Wabi Sabi Text Art“ hinzugefügt, denn dieser Ausdruck eignet sich in der Konzentration der Informationen, die er liefert, ganz wunderbar für ein Medium, in dem alles in nur wenigen Zeichen wiedergegeben werden muss, und das sich eher der breiten Masse widmet.
Vor allem aber geht es mir um Trost, Mut, Schaffensfreude und Selbstbild. Es tut mir gut, zu wissen, dass ich nicht einfach ein lächerliches Relikt aus analogen Zeiten bin, dass meine Suche und meine Art von Ästhetik von anderen als sinnig empfunden und geteilt wird. Es gibt mir Kraft, zu erfahren, dass Künstler und Kunsthandwerker, wenn auch Tausende von Kilometern entfernt, unbemerkt, gesichtslos und unprätentiös, ohne Anbiederung und Kompromisse, oft ohne Website und Social Media-Profile sogar, jedoch mit aufrichtiger Passion und größter Selbstverständlichkeit, ihrem leisen, beständigen Weg und ihren Überzeugungen folgen und auf diese Weise wunderschöne, einzigartige und unermesslich wertvolle Dinge erschaffen – und dies mit (auch wirtschaftlichem) Erfolg tun.
„Wabi Sabi“ bedeutet für mich, dass es außerhalb des Landes der Ingenieure, der Technik-, KMU- und MINT-Gläubigkeit, außerhalb der vielen Marketingzwang-Universen, tatsächlich doch noch kleine verwunschene Welten gibt, in denen Echtes und Schönes einen wirklichen Stellenwert haben.