In einem kürzlich veröffentlichten Artikel* widmete sich der Digital Marketing-Spezialist Alexander Hetzel** dem Widerstreben vieler Künstler, sich in den Social Media aktiv zu vermarkten. Die an sich schlüssige – und wie immer bei ihm sehr gut geschriebene – Kolumne zeugt einerseits von einer praxisnahen Erfahrung mit der schwierigen Beziehung von Kunst und Selbstvermarktung, übersieht und unterschätzt dabei allerdings viele Elemente der neuronalen Struktur des Künstlers.
Laienhafte Neurobiologie als Gedankenstütze
Es ist nicht nur ein vulgärpsychologischer Gemeinplatz und eine Ausrede: Alle Biografien werden in einem manchmal mehr, manchmal weniger bedeutenden Maße von kindlichen Erlebnissen geprägt. Jenseits der gern bemühten Traumata, der „ganz schlimmen“ oder „besonders glücklichen“ Kindheit verbirgt sich eine biochemische Realität. Stark vereinfacht ausgedrückt: Unser Gehirn gleicht einem großen, zunächst jungfräulichen Areal, in dem jeder unserer Schritte Spuren hinterlässt. Erinnerungen, praktische Fakten, Erlebnisse und Erkenntnisse bilden Straßen, zwischen denen sich mit der Zeit Verknüpfungen ergeben: die neuronalen Verbindungen. Diese Straßen werden um so breiter und ausgeprägter, je außergewöhnlicher ein Ereignis war oder je häufiger es sich eingetreten hat. Deshalb sind wir in der Lage, Dinge zu lernen und aus Erfahrungen Rückschlüsse für unser künftiges Verhalten zu ziehen.
Die Entdeckung des Talents als Maßstab späterer Wahrnehmung
Dem künstlerisch begabten Kind geht es hier nicht anders als anderen Kindern: Es registriert Signale und setzt sie zu einem Puzzle zusammen, aus dem es lernt. Was es lernt, ist einfach: Wenn man etwas besonders gut kann, registriert es die Außenwelt. Dies hat nur bedingt Wert, wenn Eltern, Großeltern und Verwandte das Lob aussprechen, denn auch ein Kind im Grundschulalter merkt instinktiv sehr wohl den Unterschied zwischen einem aus Liebe entstandenen Zuspruch und der Anerkennung einer neutralen und kundigen Person wie Lehrer oder Fremde, auch wenn es nicht in der Lage wäre, ihn in dieser Form zu artikulieren. Gerade talentierte Kinder aber haben oft nicht einmal das Bedürfnis, zu zeigen, was sie tun. Sie tun es für sich selbst und sehen darin nichts Besonderes, staunen nicht selten sogar über das aus ihrer Sicht unerklärliche Interesse anderer an etwas, das sie nur als grundlose Lieblingsbeschäftigung bezeichnen würden – dass es ihnen ein inneres Bedürfnis ist, dass sie nicht anders können, vermögen sie erst Jahre später in Worte zu fassen. Die Begeisterung anderer kann ihnen entweder unangenehm oder unverständlich, seltsam oder dumm erscheinen. Ganz gleich wie unwichtig, lästig oder peinlich ihnen das gesteigerte Interesse sein mögen, ihr Gehirn lernt daraus vor allem eins: Wenn man etwas wirklich gut kann, und zwar ganz außergewöhnlich gut kann, wird man entdeckt, auch wenn man sich nicht darum bemüht. Wird das Talent beim kleinen Kind durch Wiederholung des Lobs oder gar durch die Förderung durch einen Mentor, Stipendien oder Preise stetig genug in den Vordergrund gerückt, stellt das Gehirn aus diesem Grundprinzip weitere Verbindungen her. Aus dieser gedanklichen Hauptstraße entwickeln sich also logische Nebenstraßen: Wird meine Arbeit nicht beachtet, ohne dass ich darauf aufmerksam machen muss, ist sie nicht herausragend genug. Variante: Wer seine Arbeit zeigen muss, um beachtet zu werden, kann nicht gut sein. Und tatsächlich erleben sie auch, dass gerade diejenigen, die gerne ihre Werke zeigen, im direkten Vergleich oft nicht viel zu bieten haben und an Selbstüberschätzung leiden.
Folgen für die spätere Selbstwahrnehmung
Künstler sollen zu Selbstzerfleischung und Selbstzweifeln neigen, und dies wird oft als Ergebnis einer überempfindlichen, sprich nicht ganz gesunden Psyche aufgefasst, ohne die Kreativität wohl nicht möglich sei. Das Gegenteil ist der Fall. Begabung und Berufung haben für das Kind keinerlei Bedeutung und es sucht nicht nach der Anerkennung, die ihm zuteil wird. Sie kommt zunächst auf es zu, während es ohne Hintergedanken oder Ziele das tut, was ihm von Natur aus Spaß macht und seinem Wesen entspricht. Es wäre ebenso falsch zu denken, dass Künstler von Geburt an Narzissten sind, die nur aus der Bewunderung anderer zu zehren in der Lage sind und lobheischend durch die Gegend rennen. Das Verlangen nach der Entdeckung ohne eigenes Zutun ist kein Hunger eines instabilen und leicht zu kränkenden Selbstbewusstseins, sondern ein durch Erfahrung erlerntes Werkzeug zur Messung der Qualität der eigenen Arbeit und der Erfüllung der eigenen höchsten Ansprüche. Es geht um die Angst, die eigenen Maßstäbe nicht mehr zu erfüllen, der eigenen Begabung nicht mehr gerecht zu sein, nicht um Bestätigung um der Bestätigung willen.
Forschung ist immer ewige Jugend
Dass Künstler darauf warten, entdeckt zu werden, ist also das Ergebnis eines konstanten Lernprozesses des Gehirns in einer besonders prägenden kindlichen Phase, das dadurch verstärkt und zementiert wird, dass sich im Studienalter die Geschichte fortsetzt und die entsprechenden neuronalen Verbindungen immer kräftiger werden. Gerade aber weil Kunst ein Bereich ist, in dem die verbissene Suche nach Fortschritten und ständiger Steigerung Inhalt der täglichen Arbeit ist, gibt es für den Künstler beim Übergang in die Beruflichkeit keinen radikalen Schnitt, wie es in anderen Branchen der Fall ist, in denen Studium und Praxis nichts mehr gemein haben und eine ganz andere Welt mit neuen Richtwerten betreten wird. Ein Umdenken und die damit verbundene Entstehung neuer neuronaler Bahnen bleiben daher aus. Der Künstler ist sein Leben lang der junge Mensch, der nach der Kunst, wie er sie anstrebt, dürstet.
Diese ewige Jugend ist nicht ein Makel der Kunst, sie betrifft auch die gesamte akademische wissenschaftliche Forschung und sie ist das, was Kreativität ausmacht: der unverfälschte Blick, das unstillbare Sehnen. Der Unterschied ist, dass der Künstler frei und seine Arbeit nicht durch eine beamtliche Struktur geschützt und entlohnt wird.
Beruf und Berufung
Selbstverständlich steht es jedem Menschen zu, im Alter alte neuronale Verbindungen zu kappen und neue herzustellen. Verhaltenstherapie und Hypnose oder schlichtweg Selbstüberwindung und Selbstdisziplin sind hier zweifelsohne hilfreich. Aber ist der künstlerische Ansatz eine Krankheit, die wie eine Angst- oder Essstörung behandelt werden sollte? Den Künstler zu zwingen, sich für Marketing zu interessieren, würde dieser Behauptung gleichkommen.
Alexander Hetzel setzt in seiner Kolumne professionelles Künstlertum mit bezahlter Arbeit gleich, stellt die Berufung dem Beruf gegenüber und fordert Künstler auf, umzudenken, sich professionell zu verhalten, die Prinzipienreiterei aufzugeben und keine Möglichkeiten der Selbstvermarktung – die er als „neuen Realismus“ bezeichnet – für sich auszuschließen. Auch wenn er es nicht ganz so provokativ formuliert, soll der Künstler im Grunde genommen erwachsen werden, sich endlich mit der Realität abfinden und den Elfenbeinturm verlassen. Damit steht der Kolumnist nicht alleine da, wie zahlreiche Kommentare auf Artikel zum Thema Kunst in verschiedenen deutschen Online-Magazinen zeigen.
Dieser Antagonismus ist zeitgeisttypisch, erschreckend entlarvend und aus meiner Sicht zutiefst deprimierend.
Zum einen setzt diese Aussage voraus, dass es kein Berufsethos geben kann und nur die Berufung ethische Maßstäbe und qualitative Ansprüche an sich selbst kennen kann. Moral, Idealismus und Selbsttreue werden zu naivem Kinderkram degradiert, der keinen Wert für unsere Gesellschaft hat.
Zum anderen verkennt sie, was Kunst ist. Kunst ist eben nicht, wie Alexander Hetzel es sieht, was „der Markt als Kunst definiert“. Kunst ist durchaus die Meisterschaft des Handwerks, doch gepaart mit einer ästhetisch-theoretischen Zielsetzung. Und das ist sie, ob sie Geld bringt oder nicht. Ein Leuchturmwärter kann eben nur in Höhe und Abgeschiedenheit seine Arbeit gut verrichten. Mischt er sich unter die Dorfbevölkerung am Boden, macht er seinen Job schlecht, d.h. gar nicht.
Erfolg in der Kunst: Missverständnisse & Wortklaubereien
Künstler möchten entdeckt werden und natürlich von ihren Werken leben können. Missverstanden wird allerdings, was dieser Wunsch beinhaltet.
Für ihre Kunst möchten sie alles tun. Es bedeutet im Umkehrschluss, dass sie diese um jeden Preis schützen wollen. Reputation wird jedoch nicht zuletzt durch den Umgang bestimmt. „Gleich und gleich gesellt sich gern“, heißt es schon im Volksmund, und es erscheint ihnen doch recht zweifelhaft, ob es zweckführend ist, sich neben Fotos von dampfenden Eintöpfen, Kätzchen und selbstgestrickten Mützen vorzustellen. Mit Arroganz hat es nichts zu tun, sondern ist eher als gesundes kaufmännisches Gespür zu sehen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass echte niveauvolle Kunst auf solchen Plattformen überhaupt gesehen, beachtet und verstanden wird, ist angesichts der Publikumsqualität eher gering. Für Künstler mit einem etwas zugänglicheren Anspruch indes eignen sie sich perfekt. Kunst ist keine B2C-Massenware, und so hinkt die Behauptung, digitale Massenmedien seien das Allzweckmittel, doch gewaltig. Erfolg ist nicht, um jeden Preis zu verkaufen, sondern von den richtigen Leuten geschätzt und gekauft zu werden.
Neben der neuronalen Konditionierung, die die mahnende Gleichung der unangeforderten Anerkennung als unabdingbare Bedingung für die Zerstreuung von Selbstzweifeln und die qualitative Bestätigung der Sinnhaftigkeit des eigenen Schaffens an die Wand malt, ist der finanzielle Erfolg kein eigenständiges Ziel. Vielmehr erkauft Geld ohne den lästigen und behindernden Umweg über Brotjobs Zeit, Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit für die Kunst selbst.
Kunst ist anstrengend
Ganz allgemein wird in den deutschen Medien in den letzten Jahren immer wieder betont, dass Künstler im Grunde zu bequem oder zu eingebildet seien, sich einen „richtigen“ Job zu suchen, und auch nur sehr widerstrebend Maßnahmen ergriffen, um Geld zu verdienen. Alexander Hetzel geht in seiner Kolumne zwar nicht diesen Weg, aber seine Forderung, Künstler sollten sich gefälligst mit Marketing beschäftigen, zeugt von einer ähnlichen Denkart: Der Künstler kann verkaufen, wenn er nur will, sich damit aktiv auseinandersetzt und sich ganz einfach bemüht.
Hier wird übersehen, wie künstlerisches Schaffen funktioniert. Die Konzentration, die hierbei erforderlich ist, ist durchaus mit derjenigen zu vergleichen, die einem Neurochirurgen abverlangt wird – mit dem gravierenden Unterschied, dass der Arzt selbst nach einer langen Operation irgendwann Feierabend hat, sich ablösen lassen, abschalten und sich regenerieren kann, und der Künstler 24 Stunden am Tag in dieser Anspannung lebt. Künstlerische Arbeit – und sei sie noch so selbstgewählt (worüber noch viel zu sagen wäre) – ist keine entspannende Freizeitbeschäftigung, sondern eine zermürbende und erschöpfende Auseinandersetzung mit Sinnen, Gedanken und Materialien. Energie ist wie Zeit aber für jeden Menschen ein begrenztes Gut, und wer sich ganz und gar und ernsthaft dem widmen will, hat keine zu verschenken und in noch mehr schnöde fremde Aufgaben zu investieren.
Und sie haben doch recht!
Wer süchtig ist, sucht die Unterstützung einer Selbsthilfegruppe, um den Alltag zu meistern und sich von seinen ungesunden Gewohnheiten und Mustern dauerhaft fernzuhalten. Wer psychisch krank ist, unterzieht sich einer Therapie. Wer nichts von Pflanzen versteht, kauft seinen Salat im Supermarkt oder überlässt die Pflege seiner Rosen einem professionellen Gärtner. Wer keine Zeit hat, Geschenke zu besorgen, greift heutzutage auf einen Personalshopper zurück. Wer einen guten Eindruck in der Chefetage machen will, lässt sich seine Anzüge von jemandem, der das gelernt hat, maßschneidern.
Wer nichts vom Verkaufen versteht und sich lieber einer intellektuellen und kreativen Tätigkeit widmet, weil er das nun mal am besten kann, weil es nun mal sein Weg ist, hat das gute Recht, auf die Dienste einer Galerie oder eines Vermarkters zu setzen. Wenn, wie Alexander Hetzel es neulich auf Twitter bedauerte, nur sehr wenige aufstrebende Künstler, die diesen Namen verdienen, auf Instagram vertreten sind, dann liegt die Schuld nicht an ihnen. Es wäre Aufgabe von Galerien und Agenten, sie umfassend in den Social Media zu promoten, anstatt auf die einzige eigene Homepage zu vertrauen. Und es wäre Aufgabe der Mentoren, diese Galerien und Agenten rechtzeitig zu vermitteln. Dass die Hemmschwelle für die professionellen Kunstverkäufer hoch ist, ihre Schützlinge auf Facebook & Co zu profilieren, liegt weniger an Dünkel und Profitdenken. Es hat mit dem erbärmlichen Ruf solcher Plattformen bei den entsprechenden existierenden und potenziellen Zielgruppen sowie mit einer großen Unsicherheit in Sachen Kontrollierbarkeit, Urheberrechten und juristischer Verletzlichkeit zu tun. Hier müssten sie, die Verkäufer, aktiv werden, sich informieren und anpassen.
Künstler sollten sich aus vielen Gründen nicht selbst vermarkten. Es entspricht nicht ihrer neuronalen Struktur und dem, was sie sind, und es gibt für sie keinerlei wie auch immer geartete Verpflichtung, etwas zu lernen, was ihrem Wesen derart fremd ist. Vielmehr sollten Galerien und Agenten die Aufgabe der Künstlervermarktung neu erfinden und dafür sorgen, dass der Künstler frei und unbeschwert seiner Berufung nachgehen kann.
Ganz herzlichen Dank an Alexander Hetzel, der mir erlaubt hat, hier seinen Artikel zu verlinken, und somit die Veröffentlichung dieses Plädoyers überhaupt möglich gemacht hat. Unser Austausch ist mir immer eine Freude.
*Nachtrag 2023: Der Artikel ist online nicht mehr zu finden.
** Die Website von Alexander Hetzel ist ebenfalls nicht mehr online.