Es begann mit einem Radiergummi und einem Bleistift.
Kurz vor Beginn eines jeden Schuljahres bekam ich von meinen Eltern ab der 2. Klasse – neben den notwendigen Heften, Büchern und sonstigen vorgeschriebenen Utensilien – immer einen neuen Bleistift und ein neues Radiergummi geschenkt. Oft waren die bisherigen kaum benutzt und hätten durchaus für ein weiteres Jahr genügt, aber es spielte keine Rolle. Dieser Brauch, der nicht zuletzt in ihrer Überzeugung gründete, dass man nur mit guten Werkzeugen gute Arbeit leisten könne, sollte für mich auch eine Art vertragliche Verpflichtung sein, im Gegenzug die besten Ergebnisse nach Hause zu bringen. Tatsächlich entging mir die geschäftliche Seite dieses Geschenks in keiner Weise, doch sie störte mich auch nicht. Der brandneue Bleistift und das jungfräuliche Radiergummi wurden im Laufe der Zeit nicht nur zu einer lieb gewonnenen Gewohnheit, sondern auch zu dem festen Bestandteil eines beinahe abergläubischen Rituals, das ich durch Studium, Promotion und Habilitation hinweg beibehielt.
Erst als ich mich selbständig machte und mein Leben nicht mehr durch Schuljahre und Wintersemester rhythmisiert wurde, gab ich diese Tradition auf. Ich tat es sehr ungern, betrachtete ich es doch als Verlust meiner Jugend.
Die Sehnsucht nach einem frischen, strahlend weißen, unbelasteten, euphorisch-verheißungsvollen Neubeginn aber blieb. Der rein kalendarische Umbruch der Silvesternacht vermochte mich in seiner Willkürlichkeit nie zu überzeugen, und die kleinen Surrogate des profanen Alltags wie regelmäßige Entrümpelungsaktionen oder das Umorganisieren von Schubladen boten nur ein sehr blasses und schnell vergessenes Abbild dessen, was Radiergummi und Bleistift bedeutet hatten.
Selbst der Wechsel der Jahreszeiten und jene Neuanfänge, die Künstler mit jedem neuen Projekt, mit jeder leeren ersten Seite zu erleben glauben, waren nur ein schwacher Ersatz. Lediglich ein Umzug vor zehn Jahren beschwor das alte Gefühl wieder herauf.
In den letzten Wochen aber kehrte ein wenig von diesem lang vermissten Hochgefühl zurück. Der Umbau der Homepage und der Blogs, der Gewinn an Einklang, Ehrlichkeit und Selbsttreue, der sich daraus ergibt, kommen der Tabula rasa aus alten Schultagen sehr nah. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sich das Leben wieder frischer und luftdurchfluteter an. Ob damit ein tatsächlicher Erfolg verbunden ist oder nicht, ist dabei vorerst nicht einmal so wichtig. Und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit habe ich ganz bewusst ein neues Radiergummi aus seiner Verpackung geholt. Ein wunderbarer, hoffnungsfreudiger Augenblick.