Zum Inhalt springen

Schreibsommer

Die meisten Menschen stellen sich vor, dass Schreibende vor allem in den dunkleren Jahreszeiten gerne schreiben: Unfreundliches Wetter lade ein, im Haus zu bleiben, nichts lenke ab und verführe, nach draußen gehen zu wollen, es gebe also nichts Besseres zu tun, als zu arbeiten.
Für mich stimmt das kaum, und im Laufe der Jahre sind mir meine Schreibsommer immer wichtiger geworden, auch wenn ihre Bedeutung sich stark geändert hat.

Als Kind und Jugendliche war ich leider eine zu fleißige kleine Person, die das Wort „Pause“ nicht kennen wollte. Lesen, Lernen, Schreiben waren mein Lebensinhalt, und Schulferien und jede Tätigkeit fernab von Büchern, Stift und Papier eine ungeliebte Unterbrechung.
Da dieser unzähmbare Eifer bald Gesundheit und Augenlicht zu gefährden drohte, zwangen mir meine Eltern aus schierer Verzweiflung eine Vereinbarung auf: Ganze drei Wochen im Jahr waren Schreiben und Lernen verboten, und der Lesestoff musste sich auf unterhaltsame Literatur wie Kriminalromane und dergleichen für die Abende beschränken. Weitere zwei Wochen durfte ich lediglich drei Stunden am Vormittag schreiben und arbeiten. Diese durchaus sinnvolle, aber verhasste Maßnahme koste mich viele Tränen, doch sie führte nicht nur dazu, dass ich tatsächlich mich zu regenerieren lernte: Der Kopf wurde frei und sprühte nur so vor Schreibideen, so dass ich es nicht abwarten konnte, sie endlich zu Papier bringen zu dürfen. Besuchte Orte, Begegnungen, das Abendlicht am Strand, der Geruch der Cafés unter den Palmen der Promenade, der warme Duft von Konfitüren, wenn im August Aprikosen und Pflaumen eingekocht wurden … alles war wertvoller Rohstoff, den zu nutzen ein unbändiges Verlangen gebot.

Erst als ich dem Gesetz nach schon erwachsen war, lernte ich den Wert und den Genuss eines Urlaubs zu schätzen und fand in dem befreienden, erholsamen und inspirierenden Nichtstun und der produktiven Frische, die ihm folgten, ein angenehmes und fruchtbares Gleichgewicht.
Dass ich den für mich perfekten Urlaubsort gefunden hatte, der mich auch während der weiteren elf Monate nicht losließ und nach dem ich mich regelrecht sehnte, war an dieser Verwandlung nicht ganz unschuldig. Einmal im Jahr brauchte ich den Anblick des strahlend blauen Meeres, den Duft von Kräutern und Gewürzen, die feuchte Kühle steinerner Gassen und sog sie in mich hinein, auf dass sie mich durch den Winter tragen konnten. Heute, über dreißig Jahre später, ist das immer noch der Platz, an dem ich schreiben möchte.

Mit dem Schritt in die Selbständigkeit verabschiedeten sich Gewohnheiten und feste Lebensrhythmen. So etwas wie Urlaub kam bald nicht mehr in Frage. Der Sommer wurde zu einer Zeit, in der das Schreiben eine andere Qualität annahm.
Hektikfreie Wochen dieser Art sind hilfreich, um wieder zur Ruhe zu kommen. Die Arbeit bleibt das vorherrschende Thema, doch verläuft sie entspannter und fühlt sich unbeschwerter an, und auch privates Schreiben oder vereinzelte Lesestunden holen sich ihr Recht zurück.

Die Wahrheit ist: Ohne den Sommer könnte ich vermutlich nicht schreiben. Er ist Gesundheitselixier, Gedankenbrunnen, Entschädigung und Ansporn. Es gibt für mich keinen Sommer ohne Schreiben – und kein Schreiben ohne Sommer.