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Nach dem Sturm

Es sind die seltsamen Zeiten, die das Schreiben vorübergehend verändern. Für einige Stunden, Tage oder Wochen ist es nicht mehr Malerei. Es wird Erzählung und Chronik. Das Bedürfnis, festzuhalten und zu bewahren, nimmt auf einmal einen anderen Charakter an. Es ist nicht mehr ästhetischer Natur. Es wird persönlicher, journalistischer, sozusagen „historischer“. Es wird Zeugnis. Während der Alltag stillsteht, die Uhr keine Rolle mehr spielt und Pläne ins dumpfe und farblose Nichts der Dringlichkeit verschwinden, bemächtigen sich die Ereignisse der Worte und Zeilen, schaffen in unseren Erinnerungen neue, ungewollte Räume, beenden Geschichten, vernichten Biographien.
So der 28. Juli in Münster. In wenigen Stunden veränderten Blitze, Hagel, Regen und Wind viele Dinge. Zu viele Dinge. Noch heute ist nichts mehr, wie es war. Berge von Abfall, die sich mancherorts noch immer am Straßenrand türmen, erzählen von Tränen und Not. Prächtige Bäume, die seit Jahrzehnten und für Jahrhunderte dazustehen schienen, wurden verletzt, entstellt, gefällt. Der verschlafene Ort, der sich für gewöhnlich immer erfolgreich der Wirklichkeit entzieht und sich mit provinziellem Hochmut eine eigene erschafft, und der mir deshalb längst verhasst ist, rückte in den Mittelunkt der Nachrichtensendung im In- und Ausland.
Besorgte eMails und Anrufe erreichten uns und machten uns die Abgeschiedenheit des Krisengebiets bewusst, das wir urplötzlich geworden waren. Das stetige Heulen der Feuerwehrfahrzeuge elektrisierte die Luft an der Grenze zwischen Hoffnung und Entsetzen.
Ich konnte nicht schreiben. Dazu war keine Zeit. Bodenständigere Dinge waren wichtiger. Der Sturm war allgegenwärtig und schrieb über uns, nicht ich über ihn. Etliche Tage später war an normale Arbeit noch immer nicht zu denken. Lediglich ein kurzer Eintrag auf Facebook und Google+ kam zustande, und er war eher Leserbrief als Chronik.
Es hätte gutgetan, zumindest dokumentieren zu können, wie die Welt über unseren Köpfen zusammenbrach, sich hinzusetzen und zu schildern, wie sich Geräusche, Gerüche und Gewohnheiten verwandelt hatten. Es wäre ein Stück Flucht, ein Stück Geborgenheit und Sicherheit gewesen. Aber das Wasser, das durch Estrich und Wände drang, ließ diese Distanz nicht zu.
Ruhe ist eingekehrt. Wir behaupten es jedenfalls. Ich hörte, dass viele Menschen in der Stadt neuerdings nervös nach oben schauen, wenn die kleinste Wolke am Himmel zieht.
Ich habe es besser. Ich ergehe mich in beruhigender und ausführlicher Korrespondenz. Ich kann mich wieder an meinem Kugelschreiber festhalten.