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Die Sucht nach Papier

Dass Schreibende ein wenig „anders” sind, habe ich schon als Kind gemerkt, auch wenn ich es damals sicher nicht mit diesen Worten ausgedrückt hätte.
Mein Lieblingsort in der ganzen Stadt war kein Spielplatz, kein Park, kein Schwimmbad, und auch nicht das Haus meines Großvaters oder der Garten einer Freundin. Es war ein Buch- und Schreibwarenladen, ein altes, properes, nach Papier duftendes Geschäft, das nur wenige Schritte von meinem Elternhaus entfernt für mich den Himmel auf Erden darstellte.

Ich habe seitdem viele Buchläden und Schreibwarengeschäfte betreten. Etwas Vergleichbares konnte ich nie finden.
Es gab dort nichts, was es nicht gab, und man konnte alles bekommen, ganz gleich, wie abstrus, selten, teuer, klein, eigen oder unbekannt das Gewünschte war – gegebenenfalls wurde es in Windeseile am anderen Ende der Welt bestellt.
Das Geheimnis dieses Wunderlands, dieses 50 m² kleinen Paradieses war eine Art Zauberformel. Das „Hinterzimmer” bestand aus einem etwa 100 m² großen und 5 m hohen Lagerraum, der bis zur Decke mit eng gesetzten stabilen, antiken Holzregalen und einem komplizierten Gefüge aus waghalsig knarzenden Leitern regelrecht vollgestopft war. Es empfahl sich, sehr schlank zu sein, um sich durch dieses merkwürdige Labyrinth durchzuschlängeln. Eine weitere Besonderheit war die Stringenz, mit der Geschäft und Lager organisiert waren. Trotz einer beeindruckenden Warenmenge und des völligen Fehlens von Beschriftungen musste nie gesucht werden. Jeder Handgriff saß in Sekundenschnelle. Die Hauptzutat in diesem Zauberkessel war aber eine heute kaum vorstellbare Liebe zu Buch, Papier und Schrift. Die beiden älteren Damen, denen das Geschäft gehörte, und ihre langjährige Angestellte waren keine Verkäuferinnen. Sie waren gebildet, belesen, kundig und lebten mit Leidenschaft das, was sie taten. Sie hatten keinen Beruf, sondern eine Berufung. Mit ihnen konnte man stundenlang gleichermaßen über Ibsens Dramen, den Koran, die Bindung eines Clairefontaine-Heftes, die Eigenschaften englischer Aquarellfarben, den Unterschied zwischen Parker- und Waterman-Tintenleitern oder die Herstellung von Hahnemühle-Papieren reden. Beratung war keine Serviceleistung, Fachsimpeln keine Gunst, sondern eine Selbstverständlichkeit. Es gab keine Neuerscheinung, die sie nicht gelesen hatten, und auf ihren Rat war Verlass.

Schon als kleines Kind ging ich jeden Tag an diesem wunderbaren Ort vorbei, und er zog mich magisch an. Hätte ich damals Taschengeld bekommen, wäre es sofort und vollständig in die immer perfekt gewachste Mahagoni-Schublade, die als Kasse diente, gewandert. Standen andere vor Weihnachten mit gierigen Augen vor dem Spielzeugladen oder dem Süßigkeitengeschäft, so drückte ich mir die Nase an dem Schaufenster platt, in dem Romane, Bilderbände, Füller, Notizbücher und Schreibtischaccessoires zwischen der festlichen Dekoration gekonnt beleuchtet glitzerten.
Im Teenageralter besuchte ich die alten Damen fast jeden Tag. Andere hatten einen Stammplattenladen oder sogar schon eine Stammkneipe, ich hatte mein Buch- und Schreibwarengeschäft. Ich war wohl ein wenig wie ein Comic-Hund, der jeden Morgen zuverlässig um dieselbe Zeit in dieselbe Metzgerei trippelt, sich von allen streicheln lässt, und nach und nach vom Kuriosum zum Maskottchen wird. Tatsächlich wurde aus einer aus jugendlicher Sicht reichlich schrulligen Gewohnheit so etwas wie ein zweites Zuhause, ein Refugium in schwierigen Lebenssituationen, ein Lebensmittelpunkt. Ich hatte dort viele „erste Male”: meine ersten Schulhefte, mein erstes Buch, meine ersten Aquarellstifte, meinen ersten Füller, meinen ersten Studentenjob – unvergessliche und wunderschöne Augenblicke. Und meinen ersten schmerzlichen Abschied, als das Geschäft für immer schloss.

Viele Dinge mögen sich geändert haben. Mein Bedürfnis, mich mit Büchern und Schreibwaren zu umgeben, blieb ungebrochen. Meine Vorräte an Bleistiften, Kugelschreibern, Tintenpatronen und –gläschen und vor allem an Notizbüchern und Schreibblöcken sind recht beeindruckend – je nach Gesichtspunkt auch ein wenig verrückt. Im Falle einer wie auch immer gearteten Katastrophe hätte ich ganz sicher nicht genug Lebensmittel im Haus, um eine Woche zu überleben; Papier und Stifte würden aber für Jahre reichen.
Dieser Spleen treibt seltsame Blüten: Ob im Küchenregal, in der Handtasche, im Badezimmerschrank oder im Nachttischchen, es sind immer mindestens ein Schreibblock oder ein Notizbuch und zwei Stifte griffbereit. Im Sommer ist selbst der Balkon für alle Fälle ausgestattet – nicht selten findet sich im Herbst zwischen zwei nunmehr leeren Töpfen ein verwaister Bleistift.