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Das private Tagebuch

Der Semainier zu meiner Linken ist voll davon: leere Tagebücher. Einige wurden mir geschenkt, weitere kaufe ich jedes Jahr aufs Neue, als wäre mein Vorrat schon erschöpft oder drohe Gefahr, für die kommenden Monate nicht mehr zu genügen. Mittlerweile sind es dutzende, oft prachtvolle Hefte und Bücher, einige von ihnen in Leder gebunden, die sich immer höher auf den gläsernen Regalböden türmen.
Es gibt gute Gründe dafür, sie nicht anzurühren. Die kostbarsten – meist Geschenke lieber Menschen, die meine Leidenschaft für das Schreiben kennen – sind eben das: kostbar und Geschenke lieber Menschen. Sie zu entweihen, kommt mir zwar in der Tat zuweilen in den Sinn. Ich berühre sie, befühle sie, der unbändige Schreibdrang stellt sich ein … und lege sie beinahe erschrocken und erleichtert zugleich an ihren Platz zurück, als hätte ich um ein Haar eine Sünde begangen. Sie sind viel zu schön, viel zu edel für meine nichtigen Gedanken, erst recht für meine fragwürdige Handschrift. Und wäre der erste Schritt erst getan, gäbe es ja kein Zurück mehr, es wäre nicht wiedergutzumachen. Sie wären unwiederbringlich benutzt – und sie sind doch so wunderschön in ihrer duftenden Jungfräulichkeit, in der Verheißung ihrer weißen, sinnlich weichen Seiten.
Neben der Furcht vor der ästhetischen Vergewaltigung der wertvollsten Exemplare spielen aber durchaus Verlustängste eine Rolle. Die weniger Respekt einflößenden Hefte könnten als Tage- oder Notizbuch durchaus für den alltäglichen Gebrauch taugen, aber es ist die Angst, sie als Material, als Potenzial, als Sicherheit nicht mehr zu haben, ein ähnliches Stück nicht mehr zu finden, die das erste Wort oder auch nur das Festlegen einer Bestimmung hemmt und zurückhält.
Manchmal kommt ein Tag der Kühnheit. Resolut wird eine viel zu lange aufbewahrte Kladde, deren Papier bereits gefährlich altert und möglicherweise nicht mehr lang beschrieben werden kann, rettend aus dem Schrank geholt und einem unausweichlichen Zweck zugeführt. Nicht selten folgt auf dem Fuße das schlechte Gewissen, etwas verbrochen zu haben, eigennützig und ungerechtfertigt verschwendet zu haben – tagelange Schuldgefühle sind der Preis für das gewagte Unterfangen.
Erst wenn ein Heft vollständig beschrieben ist, verliert sich endlich diese zu persönliche Beziehung, und es kann durchaus vorkommen, dass es den Weg aller Papiererzeugnisse findet, und sein Schicksal gnaden- und herzlos in die blaue Recyclingtonne führt, wenn es nicht mehr gebraucht wird. Papier ist glücklicherweise geduldig.
Eine andere Art der Selbstüberlistung besteht darin, das Buch nicht für mich selbst, sondern für andere zu verwenden, es mit Texten, Collagen und Zeichnungen zu füllen und dann sozusagen als „Gesamtkunstwerk“ und Mitbringsel zu verschenken. Dieser goldene Kompromiss führt die wertvollen Seiten aus ihrem Schattendasein und lässt sich dennoch mit der Verweigerung eines selbstorientierten Genießens vereinbaren.
Und dennoch – der Semainier wird und wird nicht leer, und der tröstende Duft aus Papier, Leder und Leim, der sich mit dem des Holzes und des Wachses vermischt, wirkt beruhigend wie ein für schlechte Zeiten prall gefülltes Bankkonto.
Aber eines Tages werde ich es führen, mein privates Tagebuch. Bestimmt.