Text als Kunst zu betrachten war über Jahrhunderte hinweg eine selbstverständliche Sichtweise. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch ging diese Tradition verloren oder wurde missverstanden: Der Begriff Text-Kunst wurde auf Kalligraphie und andere Textgestaltungen und -verzierungen reduziert und die philosophische Hinterfragung von Textästhetik – etwa durch die Arbeiten von Adorno oder Käte Hamburger – haben der Schönheit von Text zwar einen theoretischen und unbestritten wertvollen Rahmen verliehen, doch seine Rezeption zugleich auf Inhalte und Stil beschränkt.
Dabei ist das Lesen von Text nicht die erstmögliche und unmittelbarste Wahrnehmung von Schriftlichem auf ästhetischer Ebene. Betrachten Menschen, die des Altakkadischen nicht mächtig sind, Keilschrifttafeln, empfinden sie sie spontan als schön. Dies liegt daran, dass wir Text hier als Gegenstand wahrnehmen, wie ein Gemälde oder eine Skulptur. Es sind die Gleichmäßigkeit und Harmonie der Schrift, die Materialoberfläche, die zeitlose und elegante Farbe, das Spiel von Licht und Schatten, die die meisten dazu bringen, sie als schön, als wertvoll und somit als Kunst anzusehen. Gerade die Tatsache, dass wir sie nicht lesen können, sondern sie nur als Objekt rezipieren, erhebt sie für uns zur Kunst. Selbst dann, wenn wir von ihrem Inhalt erfahren und es sich zum Beispiel nur um eine Aufzeichnung von Ernteerträgen, ein Bruchstück eines Handelsvertrags oder das, was heute Buchhaltungsunterlagen entspräche, handelt, finden wir sie weiterhin schön, weil die erste, spontane Wahrnehmung des Anblicks überwiegt. Das Er-Kennen des Inhalts verleiht dem Empfinden zwar eine zusätzliche, archäologische und kulturgeschichtliche Dimension, doch zeigt sich erfahrungsgemäß, dass die Banalität es nicht vermag, die spontan-emotionale Perzeption – etwa als Enttäuschung – abzuschwächen: Es wird entweder ausgeblendet, aufgrund der historischen Bedeutung geschätzt oder führt sogar aufgrund der Unmittelbarkeit eines so lange zurückliegenden Alltags zu einer gerührten Überhöhung.
Ganz ähnlich verhält es sich mit altägyptischen Hieroglyphen: Wir sehen sie zunächst als Kunstwerk und bleiben auch dann bei diesem Eindruck, wenn wir erfahren, welch oft trivialen Sinn diese Texte hatten.
In der islamischen und asiatischen Welt ist Text als Kunst anders zu verstehen. Die Tatsache, dass Kalligraphie hier eine lange Tradition hat, verbindet das Optische auf andere Art und Weise mit dem Inhalt. Kalligraphiert werden nur Texte, die es aufgrund ihrer Essenz wert sind. Das, was wir heute im Westen durch die kalligraphische Umsetzung als schön empfinden, hatte also schon vorher einen rein ästhetischen Wert, der die Ehre einer besonderen ästhetischen Darstellung rechtfertigt.
Dies war auch in der westlichen Kultur des Mittelalters der Fall. Nur inhaltlich schöne und wertvolle Texte wurden mit Buchmalereien und Schriftverzierungen kopiert. Einen Text schön zu gestalten und somit seine Bedeutung als Kunstwerk, seine Erhabenheit hervorzuheben, war eine Selbstverständlichkeit, ein immanentes Verlangen, eine instinktive Zusammenführung von Form und Inhalt im Medium der Schönheit.
Auch der Buchdruck änderte zunächst wenig daran. Gebrauchstexten – wie z.B. die Masse an Plakaten, Flugblättern und kleinen Broschüren, die zur schnellen Verteilung und zum Einmalgebrauch bestimmt waren – wurde keine besondere Beachtung, geschweige denn Sorgfalt zuteil, während andere Bücher aus derselben Zeit uns noch durch die erlesenen Druckschriften, die wunderschönen Papiere und ihren mitunter unersetzlichen Inhalt nicht nur interessieren und als Informationsquelle dienen, sondern für Bibliophile etwa ebenso Sammelwert haben, wie es eben Gemälde und andere Kunstwerke tun. Sie sind nicht nur durch den zeitlichen Abstand zu solchen geworden, sondern auch in ihrer Entstehung als solche geplant und betrachtet worden.
Diese Unterscheidung ist in Japan heute noch aktuell: Literatur, insbesondere Dichtung und Haikus werden nicht als Text allein, sondern als Kunst und Gesamtkunstwerk erfahren. Die Wahl von Druckschrift, Papierqualität, Farben, Einband ist Teil des Schreib- und Veröffentlichungsprozesses und erfolgt in langwierigen und wohlüberlegten Etappen in enger Zusammenarbeit zwischen Dichter und Gestaltern. Design wird hierbei nicht als „Rahmen“ oder „Medium“ oder „Präsentation“ des Textes, nicht als „Überbau“ oder Verzierung nachträglich hinzugefügt, sondern vom Dichter selbst im Augenblick des Schreibens auf philosophischer und konstituierender Ebene intendiert.
Literatur-Events spiritueller Prägung wie das Kyokusui-no-Utage am Jonangu-Schrein in Kyoto sind ein deutlicher Ausdruck dieser uneingeschränkt künstlerischen Sicht von Text.
Ähnlich zu bewerten – auch wenn sie nicht primär als Kunst entstand – ist Tanya Shadricks Schreibperformance, die ihre ästhetische Suche unauslöschlich mit ihrem Schreiben verbindet.
Einen ebenso faszinierenden Weg beschritt in den 2000er-Jahren das Graphikmuseum Pablo Picasso Münster, das die Begleittexte zu einer großen Ausstellung auf langen Tapetenpapierbahnen drucken ließ und so im Ausstellungsraum aufhängte, dass die selbst Teil der Werk-Installation wurden und so einen Bogen von Grafik, über Buchkunst bis zur literarischen Vermittlung als Gesamterlebnis beschrieb. Zu erwähnen ist an dieser Stelle natürlich auch Micha Brendel.
Kontraproduktiv in der Wahrnehmung und Akzeptanz von Text als Kunst sind möglicherweise der Ansatz Apollinaires in seinen Calligrammes und die textlichen Inszenierungen der Surrealisten. Durch sie haben wir uns so daran gewöhnt, Text-Kunst als notwendige Verzierung aufzufassen, dass der Text selbst im Kunstbegriff kaum noch vorkommt. Das genaue Gegenteil bietet der kürzlich verstorbene Künstler Ben, der wiederum nicht den Text an sich, wohl aber das geschriebene Wort zum eigentlichen Inhalt von Kunst macht(e). Diese Suche nach der Schönheit im Wort ist Teil meines 2019 gestarteten Langzeitprojekts Klang:Farbe.
Den unverzierten Text an sich als Kunst zu betrachten, wagen heutzutage die wenigsten. Dabei gibt es Wege, auch außerhalb der Kalligraphie Text auf dezente Art als Kunst zu leben.
Die Trennlinie zwischen Textinszenierung und Textkunst ist zuweilen fließend und unscharf. Bleibt im ersten Fall der Text im Mittelpunkt und bekommt lediglich einen Rahmen, der seine optimale Wahrnehmung und Rezeption ermöglicht, so bedeutet Textkunst, dass Text als Vorwand, als Ausgangsmaterial eines Kunstwerks verwendet wird. 2024 bekam ich zu Weihnachten dahingehend das perfekte Geschenk.
Durch das Internet haben wir traurigerweise beides verlernt: Im Vordergrund stehen nunmehr Informationen (oder was dafür gehalten wird), also höchstens das Gerüst dessen, was Text ist. Der Text selbst, ob als stilistisches Ästhetikum oder in seiner optischen Inszenierung durch Fonts, Layout, Papier, ist verschwunden. Der Bildschirm hat durch seine technischen Unzulänglichkeiten, die die Präzision einer beabsichtigten Wiedergabe beschneiden, und durch seine praktische Verwendung die ästhetische Wahrnehmung von Text zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte gebrochen und ihn somit auf sein Skelett reduziert. Durch diese Umstellung der Wahrnehmungsgewohnheiten ist stilistische Schönheit als Wesen der Kunst vergessen worden. Text „muss“ heute entweder einen Inhalt haben (Daten und Fakten), oder eine Botschaft (journalistischer oder meinungsbildender Art, was der politischen Nutzliteratur der Französischen Revolution oder des amerikanischen Bürgerkriegs nahekommt) oder eine Absicht (Romane und Lebensberichte). Andere Formen des Textes werden gar nicht gesehen, oder verächtlich als „Dichtung“ deklariert, was zu kurz greift und verfälschend ist.
Text ist dann Kunst, wenn sich das Schreiben von alledem löst und das Wort nur der Pinsel oder die Linse ist, die ohne Eingreifen der Person Schönheit und Vergänglichkeit festhält und bewahrt.
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